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Permanent Musik im Kopf

19.04.2022

Musikwissenschaftler Hartmut Schick ermöglicht einen neuen Blick auf Werke und Schaffen des Komponisten Richard Strauss, der seiner Zeit voraus war.

Professor Hartmut Schick steht vor einem Klavier.

Prof. Hartmut Schick:

"Es beeindruckt, mit welch traumwandlerischer Sicherheit Strauss hyperkomplexe Partituren so klar hingeschrieben hat." | © LMU

Das Werk von Richard Strauss zu edieren ist nicht nur aus Forschungssicht hoch spannend, sondern hat auch weitreichende Auswirkungen auf aktuelle Aufführungen. Ein Interview mit Hartmut Schick, Inhaber des Lehrstuhls für Musikwissenschaft und Leiter der „Kritischen Ausgabe der Werke von Richard Strauss“ über Highlights und Herausforderungen des Projekts.

Die Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss ist ein auf 25 Jahre angelegtes, von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften finanziertes Langzeitprojekt. Zehn Jahre Forschungsarbeit liegen inzwischen bereits hinter Ihnen. Wenn Sie eine Zwischenbilanz ziehen: Über welche Ergebnisse, die das Projekt bisher hervorgebracht hat, freuen Sie sich besonders?

Hartmut Schick: Ein Highlight für uns war, dass wir die bis dahin völlig unbekannte Frühfassung der Cellosonate von Richard Strauss erstmals edieren konnten. Sie war zwar in den 1880er-Jahren aufgeführt worden, aber seither aus dem öffentlichen Bewusstsein völlig verschwunden.

Raphaela Gromes und Julian Riem haben diese Cellosonate dann vor zwei Jahren zum ersten Mal eingespielt und aufgeführt, in einem großen Konzert hier an der Uni vor über 700 begeisterten Zuhörerinnen und Zuhörern. Für das Publikum und die Fachpresse war das eine veritable Sensation, denn diese Frühfassung ist zu zwei Dritteln eine ganz andersartige Sonate, aber kaum weniger schön als die Endfassung. Strauss hat sie damals verworfen – wahrscheinlich, weil er bei einem Kompositionswettbewerb mit diesem sehr schwer zu spielenden Werk nicht erfolgreich war.

Erleben Sie durch Ihre Arbeit auch eine Art „Neuentdeckung“ von Richard Strauss in der Konzertpraxis?

Auch andere unserer erstmals edierten Fassungen haben einige Resonanz erfahren. Besonders interessant sind die sogenannten Dresdner Retouchen der Oper „Salome“, die wir gerade im zweiten Salome-Band publiziert haben. Strauss hat das Werk 1930, also 25 Jahre nach der Uraufführung, für die Dresdner Hofoper umgearbeitet mit der Absicht, die Rolle der Salome für eine lyrische Sopranistin statt für eine dramatische Sopranistin singbar zu machen. Dazu hat er den Orchestersatz stark zurückgenommen und abgedämpft, damit eine lyrische Sopranistin mit weniger Durchschlagskraft die Salome so singen kann, wie sie auf der Bühne auch erscheinen soll: als junges, fast naives Mädchen und nicht als Wagnersche Heroine in der Art einer Brünhilde.

Das war für Strauss ab 1930 die Fassung, die er auch anderen Bühnen empfohlen hat. Sie ist aber völlig in Vergessenheit geraten – und wird durch unsere Ausgabe nun wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Gespannt sind wir auch, ob die französische Fassung der „Salome“, für die Strauss zu Oscar Wildes Originaltext die Gesangslinien neu gestaltet hat, künftig von der Opernpraxis aufgegriffen wird oder auch die jetzt anstehende Erstfassung von „Ariadne auf Naxos“, die bislang kaum aufgeführt wird.

Ist es bei dieser intensiven Beschäftigung mit dem Schaffensprozess eines Komponisten für Sie etwas Besonderes, mit den Originalquellen umzugehen?

Meine sechs Editorinnen und Editoren und ich arbeiten eng zusammen mit dem Richard-Strauss-Archiv. Das befindet sich in der Garmischer Villa, die Strauss sich aus den Tantiemen der „Salome“ bauen lassen konnte. Die ganze Einrichtung und die Bibliothek sind noch genau so erhalten wie zu Strauss‘ Lebzeiten. Das hat schon eine enorme Aura, wenn man da durchgehen und auch Originalquellen in die Hand nehmen darf, und natürlich ist das Material sehr aufschlussreich. So sehen wir zum Beispiel bei den Liedern Notizen, die sich Richard Strauss‘ Ehefrau Pauline als Sängerin in der gemeinsamen Musikpraxis in ihre Handexemplare eingetragen hat. Auch das bringen wir editorisch zum Ausdruck, in spitzen Klammern, also getrennt vom eigentlichen Werktext, aber doch so, dass man meinen kann, bei einer Probe oder einem Liederabend des Ehepaars Strauss dabei zu sein.

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2:44 | 19.04.2022

Einblicke in den Schaffensprozess von Richard Strauss

Beim systematischen Freilegen der verschiedenen Schichten eines Werkes: Was erfahren wir dabei über Richard Strauss als Musiker, aber auch als Menschen? Welche Einblicke gibt die Edition in seinen Schaffensprozess?

Es ist überliefert, dass Strauss eigentlich permanent Musik im Kopf hatte und davon manchmal fast terrorisiert wurde – nur das Skatspiel konnte ihn davon ablenken. Von manch anderen Komponisten unterschied er sich dadurch, dass er schon ziemlich früh eine sehr klare Werkkonzeption im Kopf hatte. Er hat zwar skizziert, aber dann fast immer im ersten Zugriff die definitive Partitur wie eine Reinschrift notiert. Wenn man sich die Originalquellen ansieht, beeindruckt schon, mit welch traumwandlerischer Sicherheit Strauss hyperkomplexe Partituren aus bis zu 40 Notensystemen so klar und sauber hingeschrieben hat. Da merkt man, dass im Kopf dieses Genies sehr viel mehr vorgegangen ist als bei uns Normalsterblichen.

Ihre Edition seiner Werke zeigt gleichzeitig auf, dass er manches überarbeitet, verworfen und neu gefasst hat.

Bei unserer Arbeit zeigt sich, dass Strauss mit bestimmten Werken auch sehr gerungen hat, wie mit seiner ersten Tondichtung „Macbeth“, von der er drei Fassungen niedergeschrieben hat. Hier können wir Strauss dabei beobachten – und machen das in der synoptischen Edition anschaulich –, wie er eine erste Fassung verwirft und eine mittelgute Fassung nach und nach verbessert zu einer Endfassung, die dann perfekt instrumentiert ist. Das ist hoch spannend, weil man regelrecht in die Werkstatt schauen kann: zusehen, wie Strauss sogar mit Lösungen, die wir für schon perfekt halten, immer noch nicht zufrieden ist und die Instrumentation immer noch weiter zu verbessern weiß.


Projektwebseite ermöglicht Zugang zu den Werken

An wen richtet sich die umfangreiche digitale Komponente Ihrer Ausgabe?

Auf unserer Online-Plattform kann jeder kostenlos und ganz bequem die Einleitungstexte und Kritischen Berichte zu den Bänden studieren und nach Herzenslust in Hunderten, bald schon Tausenden von Briefen, frühen Aufführungsberichten und zeitgenössischen Werkrezensionen stöbern. Man kann also in die Zeit der Uraufführungen eintauchen oder auch sich zeigen lassen, wie kreativ Strauss mit den dichterischen Vorlagen umgegangen ist – ohne dass man dafür Noten lesen können oder eine Bibliothek aufsuchen muss.

Fünfzehn weitere Forschungsjahre liegen mit dem Langzeitprojekt noch vor Ihnen. Worauf sind Sie besonders gespannt, welche Resultate erhoffen Sie sich?

Spannend wird sicherlich, sich mit dem Frühwerk des Teenagers Strauss zu beschäftigen – da ist manches bisher noch überhaupt nicht ediert und wird vielleicht auch manches Verlorene noch auftauchen. Bei den frühen Ouvertüren und Sinfonien werden wir zum Beispiel klären müssen, welchen Anteil eigentlich Strauss‘ Vater an den Partituren hatte, wenn er Werke ins Reine geschrieben und dabei manches stillschweigend geändert hat – nicht immer im Sinne seines Sohnes. Zentral bleibt für uns aber weiterhin, dass unsere kritische Edition nicht nur für Bibliotheken bestimmt sein soll, sondern ganz direkt in die Musikpraxis ausstrahlt. Diese Partituren sollen zum Klingen gebracht werden.

Kritische Ausgabe der Werke von Richard Strauss: Zur Online-Ausgabe

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