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Steuererklärung: Digitalisierung statt Bierdeckel

13.11.2024

Die Steuerexperten Deborah Schanz und Rudolf Mellinghoff über Möglichkeiten, das deutsche Abgabensystem zu vereinfachen.

Professor Rudolf Mellinghoff und Professorin Deborah Schanz waren Mitglieder in zwei unabhängigen Expertenkommissionen zur Vereinfachung des Steuerrechts, die das Bundesfinanzministerium eingesetzt hat. Schanz ist Professorin für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an der LMU, Mellinghoff leitet das Zentrum für Digitalisierung des Steuerrechts der LMU. Im Interview erläutern sie, wo sie besonders große Defizite im aktuellen Steuerrecht sehen und wie sich diese Defizite ihrer Ansicht nach überwinden lassen.

Vom deutschen Steuersystem heißt es oft, es sei unnötig kompliziert und hinke bei der Digitalisierung hinterher. Zu Recht?

Rudolf Mellinghoff: Das deutsche Steuerrecht ist wirklich sehr kompliziert. Das sieht man schon daran, dass die Gesetze lauter Kleinbuchstaben haben. Wer denkt, ein bestimmtes Steuergesetz hätte 99 Paragrafen, der täuscht sich. Denn die Paragrafen sind in Buchstaben a, b, c, d und so weiter gegliedert und entsprechend schwer zu handhaben. Und was die Digitalisierung der Finanzverwaltung angeht, ein Beispiel: Die Bundesländer haben eigene Rechenzentren. Wenn man in Baden-Württemberg eine Steuererklärung digital abgibt, kann das Land sie nicht online etwa nach Rheinland-Pfalz übermitteln. Sondern sie wird ausgedruckt, in Papierform über den Rhein geschickt und dort eingescannt, damit man sie digital weiterbearbeiten kann. Das sind unhaltbare Zustände. Oder Sie müssen sich vorstellen: Es gibt heute noch Kommunen, die mit einer Software arbeiten, die das @-Zeichen nicht kennt. Wenn wir nicht schnell vieles ändern, werden wir bald völlig veraltete Systeme haben, die überhaupt nicht mehr zu administrieren sind.

Frau Prof. Schanz, Sie haben sich in den Gutachten für das Bundesfinanzministerium vor allem mit dem Unternehmenssteuerrecht befasst. Teilen Sie die Einschätzung von Prof. Mellinghoff?

Deborah Schanz: Ja, absolut. Das Unternehmenssteuerrecht ist mittlerweile so komplex und kompliziert, dass wir in den Gesprächen mit Unternehmensvertretern sehr oft gehört haben, man könne eigentlich nicht mehr guten Gewissens eine Steuererklärung unterschreiben. Weil niemand sicher sein kann, ob er wirklich alles richtig gemacht hat, egal, wie sehr er sich darum bemüht. Das ist ein klares Zeichen.

Professorin Deborah Schanz

Deborah Schanz ist Professorin für Betriebswirtschaftliche Steuerlehre an der LMU. | © Copyright Kubinska & Hofmann

Die beiden Kommissionen, in denen Sie mitgearbeitet haben, haben auf rund 200 Seiten Vereinfachungs- und Verbesserungsvorschläge gemacht. Was wären besonders griffige Beispiele aus diesen umfangreichen Papieren?

Deborah Schanz: Besonders beispielhaft finde ich die Freistellungsverfahren für grenzüberschreitende Zahlungen. Wenn etwa ein Unternehmen eine Softwarelizenz eines US-Konzerns nutzt, ist grundsätzlich vorgesehen, dass der Lizenznehmer eine sogenannte Quellensteuer einbehält und abführt. Von dieser Pflicht kann sich ein Unternehmen aber oft befreien lassen. Das muss jedoch jeder ausländischer Lizenzgeber für für jeden einzelnen Vertrag machen, und das können hunderttausende oder gar Millionen sein. Das kann man vereinheitlichen. Hier ist „Once Only“ das Schlagwort: Dass eine solche Prüfung ein einziges Mal erfolgt und nicht millionenfach. Das hätte ein enormes Vereinfachungspotenzial.

Herr Prof. Mellinghoff, in dem Gutachten mit Schwerpunkt Digitalisierung, an dem Sie mitgearbeitet haben, kommt ebenfalls das Stichwort „Once only“ vor. Was würde es in diesem Bereich bedeuten?

Rudolf Mellinghoff: Die Kernidee ist: Daten, die dem Staat bekannt sind, weil sie irgendeiner Behörde übermittelt wurden, können von allen anderen Behörden genutzt werden. Steuerzahler sehen manchmal bei der vorausgefüllten Steuererklärung, dass Daten eingespielt werden, die dem Staat schon zur Verfügung stehen. So etwas muss flächendeckend eingeführt werden. Der Wille dazu besteht, die Ministerien bemühen sich darum. Aber das Problem ist, dass eine ganzheitliche Strategie fehlt.

Welches Beispiel fällt Ihnen ein, bei dem mit wenig Aufwand eine effektive Vereinfachung im Steuerrecht möglich wäre?

Rudolf Mellinghoff: Der Kommission, in der ich mitgearbeitet habe, liegt sehr am Herzen, dass ein normaler Arbeitnehmer, der neben seinen Lohneinkünften keine weiteren Einnahmen hat, überhaupt nicht mehr zwingend mit dem Finanzamt in Kontakt kommt. Das gleiche gilt für einen Ruheständler, der ausschließlich Renten oder Ruhestandsbezüge erhält. Dafür wollen wir Pauschalen einführen. Beim Arbeitnehmer eine sogenannte Arbeitstagepauschale, bei den Rentnern und Pensionären stellen wir uns eine Abzugssteuer vor, so wie bei der Lohnsteuer. Das bedeutet, dass bei der Auszahlung der Rente die Steuer an der Quelle beglichen wird.

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Frau Prof. Schanz, gerade im Unternehmenssteuerbereich heißt es oft, ein Steuersystem muss kompliziert sein, damit es gerecht sein kann. Ist das deutsche Steuersystem in seiner Kompliziertheit denn wenigstens gerecht?

Deborah Schanz: Einzelfallgerechtigkeit ist ein wichtiges Ziel. Aber es gibt tatsächlich viele Bereiche, wo wir von einer Dummensteuer sprechen. Das heißt, wer eine exzellente Beratung hat, steht ganz anders da, als ein Unternehmen, das nicht über die Kenntnisse verfügt, um die Regeln optimal anzuwenden. Und das ist ungerecht.

Die Kommission, an der Sie mitgearbeitet haben, fordert vor allem im grenzüberschreitenden Steuerrecht Regeln zur Missbrauchsbekämpfung massiv zurückzuführen. Öffnet das denen, die auf Gerissenheit setzen, nicht Tür und Tor und lässt die Ehrlichen die Dummen sein?

Deborah Schanz: Im Gegenteil. Wir glauben, dass ein Rückbau der Anti-Missbrauchsregeln einen Missbrauch keineswegs wahrscheinlicher macht. Wir stellen unsere Forderung vor dem Hintergrund, dass sich die Rahmenbedingungen stark verändert haben. Es wurde eine globale Mindeststeuer eingeführt. Vorher gab es Staaten, die eine Null-Besteuerung ermöglicht haben, jetzt ist durch ein neues System weltweit sichergestellt, dass jeder auf Gewinne mindestens 15 Prozent Steuern zahlt. Und damit ist die Wettbewerbssituation eine ganz andere. Viele Regelungen, die bisher dazu da waren, eine Mindestbesteuerung sicherzustellen, sind deshalb hinfällig.

Sie machen auch Vorschläge, deren Umsetzung wahrscheinlich ziemlich unpopulär wäre. So fordern Sie, dass die Möglichkeit, Handwerkerrechnungen steuermindernd geltend zu machen, wieder abgeschafft werden soll. Warum?

Rudolf Mellinghoff: Das wurde ja erst 2011 ins Steuerrecht eingeführt, es ist also eine relativ junge Vorschrift. Es gibt aber schon zahlreiche Gutachten dazu, und nicht eines hat nachweisen können, dass diese Regelung den gewünschten Erfolg bringt, dass nämlich die Schwarzarbeit zurückgeht. Diese Regelung ist aber die größte Subvention im Einkommensteuerrecht mit über drei Milliarden Euro Volumen. Wenn wir diese Subvention streichen, könnten wir die Bürger in anderen Bereichen entlasten. Und diese Vorschrift ist in der Anwendung extrem kompliziert, weil sie Überschneidungen mit den außergewöhnlichen Belastungen und den Werbungskosten hat. Auch das spricht dafür, sie ersatzlos zu streichen.

Professor Rudolf Mellinghoff

Rudolf Mellinghoff leitet das Zentrum für Digitalisierung des Steuerrechts der LMU. | © BFH/Bildkraftwerk/Bernd Lammel

Die Papiere, an denen Sie mitgewirkt haben, sind jeweils mehrere hundert Seiten stark. Wie lange würde es dauern, Ihre Vorschläge umzusetzen?

Rudolf Mellinghoff: Das kommt sehr auf die verschiedenen Vorschläge an. Es gibt Einzelmaßnahmen, die innerhalb weniger Monate umgesetzt werden könnten: Abschreibungsmöglichkeiten, Sammelposten oder Ähnliches etwa für Handwerker. Es gibt andere Vorschriften, die müssen sorgfältiger untersucht werden, und das kann Jahre dauern.

Deborah Schanz: Ich denke auch, einiges lässt sich innerhalb weniger Monate umsetzen. Und wir sehen, durchaus mit Begeisterung, dass die Politik und auch Ministerien auf Landes- und Bundesebene sich intensiv mit unseren Vorschlägen befassen. Aber es gibt natürlich auch andere Bereiche, die komplexer sind und wo Änderungen sicher nicht mehr in dieser Legislatur umgesetzt werden können. Doch es geht ja auch darum, Debatten erst einmal anzustoßen.

Es gibt seit Jahren immer wieder die Forderung, die Gesetze müssten so einfach sein, dass eine Steuererklärung auf einen Bierdeckel passt. Ist das denkbar?

Rudolf Mellinghoff: Nein. Ich glaube nicht, dass es eine Steuererklärung auf dem Bierdeckel geben wird und geben kann. Aber was erreichbar ist, wenn wir eine gute Digitalisierung haben, ist eine Steuererklärung auf Knopfdruck. Wenn dem Staat ausreichend Daten zur Verfügung stehen, müssten Arbeitnehmer, Rentner, Pensionäre nur noch kontrollieren, ob das, was der Staat vorgeklärt hat, tatsächlich zutrifft.

Deborah Schanz: Ich denke auch, die Frage stellt sich gar nicht mehr. Was man heute bräuchte, wäre ein Ort, an dem man umfassend auf Daten zugreifen kann, mit entsprechenden Schnittstellen und digitalen Kommunikationsmöglichkeiten. Dann brauchen wir gar nicht so etwas wie einen Bierdeckel.

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